Jochen Schimmang: „Laborschläfer“

Der Moment des Aufwachens ist ein Schnelldurchlauf verschiedener Bewusstseinszustände. Langsam bricht Licht hervor und die Konturen nehmen Form an und werden Prisma für das kommende Farbenspiel. Die Wahrnehmungen wurzeln noch im Traum und greifen bereits nach der Realität. Das Buch ist mehr als ein Spiel zwischen kollektivem Unbewussten und individueller Erinnerung. Die dösige Gesellschaft erwacht in lichten Momenten, die Jochen Schimmang und mit oder durch ihn der Protagonist, Rainer Roloff, genau beobachtet und literarisch fixiert. Auch wenn er zwischen den Bewusstseinsabteilungen des Gehirns mäandert, ist der Roman zielführend und treibt in einen Wachmodus, der niemals einschläfernd ist. Die klugen Anspielungen auf Literatur, Musik und politische und gesellschaftliche Entwicklungen und die Geschichte begeistern und beflügeln. Die gelähmte Gesellschaft wurde durch die Pandemie in einen Zwischenraum bestehend aus Wachsein und Schlaf gebannt. Denn in der Jetzt-Situation spielt die eigentliche Handlung. Doch ist die Gesundheitskrise nur ein Beiwerk der Handlung, die das tatsächliche Umfeld beleuchtet. Der ganze Roman ist ein Brunnen aus sprudelnden Erinnerungen, Einfällen und Momenten.

Der Hauptcharakter, der sich den Schlaf aus den Augen reibt, ist Rainer Roloff. Er ist Soziologe, der aber meist nur in seinem Kopf sein studiertes Wissen anwendet. Er ist melancholisch, leicht zynisch und fühlt sich in der Einsamkeit wohl, auch wenn er das soziale Umfeld sucht. Menschen betrachtet er hin und wieder wie Außerirdische. Seine Berufsbezeichnung tituliert er gerne mit Privatgelehrter. Er übt unterschiedliche Tätigkeiten aus, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Struktur erhält er durch eine Langzeitstudie, an der er als Proband teilnimmt. Dr. Meissner, der die Studie leitet, möchte die Schlafphasen, den Moment des Aufwachens und den Einfluss des Schlafes auf das Gedächtnis erforschen. Dafür hat er Schlaflabore eingerichtet und Rainer Roloff reist regelmäßig von Köln nach Düsseldorf oder Lübeck, um nach dem Aufwachen seine Erinnerungen und Gedanken aufzuschreiben und in Folge mit den Ärzten zu besprechen. Diese Protokolle sind es, die die Traumreste in Geschichte umwandeln, denn Rainer Roloff ist ein Jahr älter als die Bundesrepublik und er hat eine enorme Erinnerungsgabe. Sein privates Erinnern vermischt sich mit dem kollektiv Erlebten. Als belesener, gelehrter und an Kultur interessierter Mensch weiß Rainer Roloff durch sein Langzeitgedächtnis viel zu berichten. Seine Gedanken sind niemals still. Er befindet sich psychisch und physisch beständig in Zwischenräumen. Zwischen Erlebtem, der Gegenwart und seinen Reisen zu den Schlaflaboren. Dabei fixiert er seine Assoziationsketten. Er ist ein hellwacher Held, der gut schlafen kann und auch bewandert ist in populären Ereignissen. Von der Barschel-Affäre zu einem Talking Heads- oder Kraftwerk-Album sind es bei ihm nur wenige Gedankenschritte. In den Betrachtungen wird die Gesellschaft auf großartige Weise seziert. Der Stillstand des öffentlichen Lebens durch die gegenwärtige Situation belebt im Schlaflabor das individuelle und philosophische Leben.

Der Roman ist spielerisch und ständig assoziativ aufgebaut. Es macht unglaublich Spaß, dem Helden durch seine räumlichen und gedanklichen Reisen zu folgen. Eine Schlafstudie als Auftakt für ein literarisches Ereignis. Die Charaktere zirkulieren um den Forschungszweck und mindestens einer verliert dabei sein Gleichgewicht. Die Betrachtungen sind teilweise einer Traum-Logik geschuldet und die Wahrnehmungen vermischen sich dadurch erneut. Ein kompakter, fundierter Lesespaß mit vielen popkulturellen und literarischen Zitaten (wer den Bezug sucht, wird auf den letzten Seiten des Buches fündig).

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